Das Experiment
Oliver Hirschbiegel
Regie
Das Leben des 1957 in Hamburg geborenen Regisseurs wurde in
einer Waldorf-Schule geprägt, deren autoritätskritisches
Erziehungskonzept er so ernst nahm, dass er früh die Schule
verließ, um als Küchenjunge zur See zu fahren.
Anschließend begannn er ein Malerei- und Grafik-Studium
an der Hamburger Hochschule der Künste, wo er sich unter
Sigmar Polke zunehmend den Bereichen Foto, Video und Film zuwandte.
Über Rauminstallationen und Performanceauftritte näherte
er sich der Inszenierungsarbeit an und entwickelte zusammen mit
dem Video- und Filmemacher Gabor Body das Videomagazin Infermental.
1986 verkaufte er seine erste selbstgeschriebene Geschichte
Das Go! Projekt nur unter der Bedingung ans ZDF, dass
er es auch selbst inszenieren dürfe: "Plötzlich
war ich Filmregisseur, und die, die's mir beigebracht haben,
waren Hitchcock, Huston und Hawks.
North By Northwest habe ich von der ersten bis zur
letzten Einstellung durchgezeichnet, habe sozusagen ein richtiges
Storyboard davon gemalt, um herauszufinden, wie man mit Bildern
erzählt: Wie lässt man jemanden zur Tür reinkommen?
Wie dreht man ein Flugzeug, das einen Mann angreift? Wie dreht
man eine Autofahrt, und wann muss man wohin schneiden? Das war
gut und hat funktioniert!
Unter anderem habe ich auch Sequenzen von Peter Weirs The
Year Of Living Dangerously, Sydney Pollacks Three Days
Of The Condor, von John Schlesingers Marathon Man
durchgearbeitet, und auch alles von Ridley Scott, insbesondere
Aliens und Blade Runner!"
Das Go! Projekt bekam gute Kritiken und Oliver Hirschbiegel
weitere Angebote. In den folgenden Jahren inszenierte er diverse,
mit verschiedenen renomierten Fernseh-Preisen ausgezeichnete
Thriller und Kriminalgeschichten für das Fernsehen (Das
Urteil von 1997, Todfeinde 1998 ) sowie 14 Episoden
der Fernsehkrimiserie Kommisar Rex und zwei Tatort-Beiträge.
Das Experiment ist sein Kinofilmdebüt.
Interview mit Oliver Hirschbiegel
*** Das Experiment ist nach einer Reihe von Fernsehfilmen
Ihr erster Kinofilm. War das eine grosse Umstellung in der Arbeitsweise?
Der Vorteil beim Fernsehen ist, dass man eine relative Garantie
hat, wenigstens zwei bis drei Millionen Menschen zu erreichen,
was im Kino ja nicht so häufig ist. Außerdem ist die
Arbeitsweise beim Kino langsamer, weil alle mit mehr Respekt
rangehen, was mir nicht so liegt, ich bin sehr ungeduldig und
arbeite gern schnell. Die 35-mm-Kamera ist klobiger als die Super
16 und schwerer zu bewegen, der ganze Aufwand ist größer.
Man kann nicht so spontan aus der Hüfte schießen.
*** Was hat Sie an dem Buch besonders gereizt?
Jede gute Geschichte lebt davon, dass sie etwas über Menschen
erzählt. Die Entwicklung der Figuren war mir bei all meinen
Filmen wichtig, dass Menschen Lernprozesse durchmachen und diese
umsetzen, und dass sie in einer Situation gezwungen sind, Position
zu beziehen. Das war in der Romanvorlage in vielen Figuren angelegt.
Ganz wichtig war für mich auch, dass es eine spannende Geschichte
ist, die in Deutschland mit deutschen Figuren passiert, die nicht
so tun muss, als wäre das Frankreich oder Amerika oder England.
*** In Deutschland ist es ja immer noch selten, dass wie in
Ihrem Film eine spannende Geschichte konsequent aus den Charakteren
und den Orten heraus entwickelt wird. Woran liegt das Ihrer Meinung
nach?
Das Geschichtenerzählen ist einfach nicht die große
Stärke der Deutschen. Wir sind ein Volk der Dichter und
Denker. Meine Vorbilder sind mit Ausnahme von Faßbinder
keine deutschen Regisseure, sondern Amerikaner, Huston, Hawks,
Hitchcock, Wilder. Wann immer ich unsicher bin, frage ich mich:
Was hätte der alte Hawks jetzt gemacht?
*** Würden Sie selbst an so einem Experiment teilnehmen?
Seit ich den Film gemacht habe, sicher nicht mehr! Vorher auf
alle Fälle! Die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit
interessieren mich sehr stark. Man kennt das: Wenn kleine Jungs
Cowboy und Indianer, Detektiv und Gangster spielen, wird es für
sie ganz schnell zur Wirklichkeit. Speziell in Männern ist
das ganz stark vorhanden!
*** Ihre Filme kreisen immer wieder um diesen Punkt, an dem
sich die Helden entscheiden müssen, ob sie Verantwortung
für ihr Tun übernehmen...
Ich glaube, das ist reiner Zufall. Mir geht es einfach darum,
Geschichten auf eine Weise zu erzählen, dass der Zuschauer
keine Chance hat zu entkommen. Spannende Geschichten, in denen
die Menschen eine Entwicklung durchmachen. Erzählen ist
das älteste Handwerk des Menschen, das geht tausende von
Jahre zurück, als sie noch gemeinsam am Lagerfeuer saßen.
*** Die Figur des Professor Thon hat ja durchaus Charakteristika
eines irren Wissenschaftlers, der über die Lust am Forschen
seine Grenzen vergisst.
So irre finde ich das gar nicht. Es ist das Prinzip der Forschung,
dass man Risiken eingehen muss. Wenn das immer so einfach wäre,
'stop' zu sagen, dann hätten 90 Prozent der Katastrophen
der Menschheit nie stattgefunden. Jede Situation lässt sich
abbremsen, wenn die Vernunft reagiert, dafür gibt es aber
in der Geschichte der Menschheit nur sehr wenige Beispiele.
Stattdessen sorgen Egoismus, Realitätsverlust, Gefühle
von Berufenheit oder religiöser Wahn dafür, dass sie
weitermachen. Wenn man eine Expedition unternimmt und sich vier
Wochen durchs Eis kämpft, dann bricht man eben nicht kurz
vor dem Ziel ab. Wenn man etwas herausfinden will, geht man weiter.
Ich finde das nicht verrückt, sondern nur menschlich.
*** Die Kamera, die Tarek mit ins Gefängnis nimmt, haben
Sie eingeführt, die gab es im Buch von Mario Giordano noch
nicht...
Ich hatte einen Artikel gelesen über diese Brillenkameras,
die in der Chirurgie und im Spionagebereich eingesetzt werden.
Das hat mich auf die Idee gebracht, dass das doch ein wunderbares
Arbeitsmittel für Tarek wäre. Ich hatte das Problem,
dass er nie ein Arbeitsgerät hatte, nicht mal einen Stift,
also haben wir das dann ins Drehbuch eingebaut.
*** Diese Art der Verwendung von Videobildern ist ja im Moment
im Spielfilm sehr populär...
In Zeiten zunehmender Unsicherheit sind Bilder einfach eine
Möglichkeit, etwas oder auch sich selbst festzuhalten, und
sich die Monströsitäten der Welt zu erklären.
Wenn man etwas aufzeichnet, schafft man eine gewisse Form von
Ordnung.
*** Verursacht die Kamera manche Unsicherheiten nicht überhaupt
erst, schon wenn man beispielsweise an Antonionis Blow Up
denkt?
Die Grenze ist schwer zu ziehen. Wenn ein Journalist durch die
Kamera sieht, wie ein Soldat erschossen wird, wird er nichts
unternehmen, weil er durch den Sucher schaut und nicht mit seinen
Augen. Er zeichnet auf, was passiert. Wenn er aber keine Kamera
hat, wird er rübergehen und 'halt, stop!' sagen. Für
Tarek kommt der Moment, in dem er merkt, dass Zivilcourage gefragt
ist, dass das Ganze - auch von ihm verursacht - zu weit geht.
Da geht er zu Schütte rüber und steckt die Brille weg,
und redet mit ihm und macht ihm Mut.
*** Hat Moritz Bleibtreu Tareks Videobilder immer selbst aufgenommen?
Ja, er hat auch einen Credit als videocamera operator.
Die Kamera gibt es wirklich so, wie sie im Film zu sehen ist,
wir haben aber ein Brillengestell verwendet und eine etwas höher
auflösende Kamera darauf gesetzt.
*** Was bedeutet Ihnen die Kamera als Regisseur?
Für mich ist sie nur ein Mittel zum Zweck. Viele Regisseure
sind sehr technikorientiert, arbeiten stark mit Special Effects.
Mir ist dagegen die Arbeit mit den Schauspielern wichtiger und
lieber.
*** Hat es Sie beunruhigt, mit so einem riesigen Ensemble relativ
gleichberechtigter Schauspieler gleichzeitig zu arbeiten?
Schon, zumal ich bis zum letzten Tag vor dem Drehbeginn am Drehbuch
gearbeitet habe und insofern nicht viel Zeit hatte, mich auf
den Dreh vorzubereiten. Da ist man dann plötzlich schon
so etwas wie ein Centurio, der morgens vor seiner Truppe steht.
*** Wie sehen Sie die Nähe zum Fernsehprojekt Big Brother?
Sicher, in beiden Fällen gibt es Überwachungskameras,
doch darüber hinaus hält der Vergleich nicht: Bei Big
Brother gehen die Leute in diesen Container und inszenieren
sich selbst, sie simulieren Realität. Das wird so getan,
als wäre es echt, im Grunde ist es aber weniger realistisch
als eine gut erzählte Geschichte.
Bei uns sind das ganz normale Typen, die ganz bewusst sagen,
ich spiele jetzt die Rolle Wärter: Die Möglichkeiten,
darüber hinaus noch zu spielen, sind ganz gering. Als Gefangener
überlegt man sich schon, ob man das Maul aufreißt
und 20 Liegestützen riskiert. So eine Situation gibt es
in Big Brother nicht. Außerdem möchte ich
nicht wissen, wie es bei uns aussieht, wenn man das nicht fünf,
sondern 100 Tage laufen lässt...
*** Im Original-Experiment gab es keine Toten. Warum haben Sie
dann doch so ernst gemacht?
Wir haben die Spirale der Gewalt einfach konsequent weitergedacht.
Menschen bringen Menschen ja aus ganz anderen Gründen um:
im Affekt, aus Eifersucht beispielsweise, da entscheidet ein
Moment darüber, dass jemand stirbt. Die Konsequenz, in der
Menschen ausrasten können und immer mehr den Bezug zur Realität
verlieren, ließ sich auf diese Weise exemplarisch zeigen.
*** Der Film thematisiert die Grenzen zwischen Spiel und Fiktion,
inwieweit hat sich das denn bis in die Dreharbeiten hinein ausgewirkt?
Als Regisseur ist man ja immer der Captain. Wenn 20 Männer
in so einem Raum und so einer Situation zusammen kommen, dann
wird der Captain schnell zu einer Instanz über den Regisseur
hinaus, fast so eine Art General. Und wenn man dann merkt, dass
man als Regisseur in so eine Situation kommt, in der man vor
dem Monitor sitzt und seine Schauspieler fast wie Versuchskaninchen
beobachtet, dann ist das schon erschreckend.
*** Während der Dreharbeiten haben Sie häufig den
Soundtrack von Fight Club gehört, inwieweit hat
Sie der Film auch inspiriert?
Im Nachhinein war der Film ein großer Einfluss, weil er
Männer als Männer ernst nimmt und sie auch in ihrer
Lächerlichkeit nie denunziert. Normalerweise erwartet man
von Männern immer, dass sie aufrecht und stark sind. So
etwas wie ein harter Killer, der trotzdem ein zärtlicher
Liebhaber ist, hat da meist keinen Platz. In Fight Club
haben die Männerfiguren genau wie in meinem Film eine größere
Differenziertheit.
*** Man könnte meinen, Sie hätten nur wegen der Förderung
in Köln gedreht?
Nein, für mich ist Köln sehr glaubwürdig für
so ein Experiment, es ist einfach richtig, dass das in Nordrhein-Westfalen
stattfindet. Im Buch war es Düsseldorf, was ich als Motiv
nicht so sexy finde wie Köln. Köln ist so eine warme,
gemütliche Stadt, und man kann sich gut vorstellen, dass
etwas Ähnliches dort in so einer gewissen Naivität
in so einem Keller passiert. Jedenfalls glaubwürdiger als
in München oder Hamburg, wo es eine ganz andere Farbe gehabt
hätte. Und Berlin ist an sich schon so hart und kalt.
*** Für wen machen Sie Filme?
Für möglichst viele Menschen, und für möglichst
alle Altersgruppen. Mein sportlicher Ehrgeiz ist es, universelle
Geschichten so universell zu erzählen, dass sie auf dem
ganzen Erdball verstanden werden.
Im Zeitalter der Massenmedien geht es darum, eine möglichst
große Menge von Leuten zu erreichen und zu bewegen. Und
ich denke, dass dieser Film eine Wahrhaftigkeit und eine Echtheit
hat, nach der sich auch die Jugendlichen heute sehnen. Unser
gesellschaftliches Leben in der westlichen Kultur wird immer
komplexer und komplizierter, und der ganze technische Fortschritt
geht mit einer Auflösung idealistischer Grundwerte einher.
Dadurch hat die Jugend, die ja immer smarter ist als der Rest
der Bevölkerung, intuitiv dieses Bedürfnis nach Echtheit
und Wirklichkeit. Unser Film ist keine spekulative Show, die
auf Effekten basiert, sondern eine echte, wahrhaftige Geschichte!
Mir geht es auch nicht darum aufzurütteln, sondern klug
zu unterhalten. Was ich mache, hat für mich nichts mit Kunst
zu tun. Ich bin kein Künstler mehr, sondern Geschichtenerzähler!
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