Sade
Benoît Jacquot
Regie
1975 L'assassin musicien
1977 Les enfants du placard
1981 Les ailes de la colombe
1986 Corps et biens
1988 Les Mendiants
1990 La désenchantée (Die Entzauberte)
1993 Ecrire
1993 La Mort du jeune aviateur anglais
1995 La fille seule (Das einsame Mädchen)
1997 Le septième ciel (Der siebte Himmel)
1997 Marianne
1998 L'école de la chair (Die Schule
des Begehrens)
1998 Par coeur
1999 Pas de Scandale
2000 La fausse suivante
2000 Tosca
2000 Sade
Interview mit Regisseur Benoît Jacquot
Der Film wurde durch Serge Bramlys Roman "La Terreur
dans le Boudoir" inspiriert, der 1994 bei Grasset veröffentlicht
wurde.
Zunächst kannte ich den Roman von Serge Bramly überhaupt
nicht. Ich habe das Buch erst gelesen, als mich der Produzent
Patrick Godeau wegen eines Filmprojekts kontaktierte und dabei
die Namen Sade und Daniel Auteuil ins Gespräch brachte.
Er meinte damit nicht Sade oder Auteuil, wohlgemerkt, sondern
beide zusammen.
Meine Antwort war sofort positiv: für den einen wie für
den anderen, und erst recht für beide zusammen. Danach berichtete
mir Godeau, wie die Idee zu dem Projekt überhaupt entstanden
ist: Er hatte einfach Lust, einen Film über den Marquis
de Sade zu produzieren und im Hinblick darauf Serge Bramly gebeten,
ein Drehbuch zu schreiben. Dieser hatte den Auftrag nicht nur
bereitwillig akzeptiert, sondern sich so gründlich in die
Arbeit gestürzt, daß schließlich ein Roman daraus
entstand, den er alsbald seinem Verleger präsentierte.
Das führte zu rechtlichen Auseinandersetzungen, für
die - so glaube ich - am Ende die folgende Kompromißlösung
gefunden wurde: Der Roman durfte zwar veröffentlicht werden,
die Rechte daran blieben jedoch bei Patrick Godeau.
Als ich den Roman las, fand ich Bramlys Herangehensweise sehr
interessant: Er hat mehr oder weniger aufs Geratewohl verschiedene
Elemente aus Sades Biographie herausgegriffen und dann das historisch
Verbürgte auf recht pfiffige Weise mit dem bloß Imaginierten
kombiniert. Sein Porträt des Marquis bot somit eine gute
Ausgangsbasis, und so haben wir uns sofort an die Arbeit gemacht.
War es Ihre Idee gewesen, Sade an einem bestimmten Punkt
seines Lebens zu porträtieren, an dem die verschiedenen
Aspekte seines Werks besonders konzentriert erscheinen?
Serge Bramlys Buch behandelt eine Periode in Sades Leben, über
die man so gut wie gar nichts weiß. Er hat also ein imaginäres
Porträt geschaffen, gleichzeitig aber, sei es in Form von
Rückblicken auf die Vergangenheit oder durch Anspielungen
auf die Zukunft, das ganze Leben des Marquis heraufbeschworen.
Jacques Fieschi wollte dann, ausgehend von dieser speziellen
Periode, eine ausführliche Biographie auf die Beine stellen:
Wenige Monate in Sades Leben sollten demnach als Ausgangspunkt
dienen, um mehr oder weniger sein gesamtes Leben vom Anfang bis
zum Ende nachzuerzählen.
Was mich jedoch mehr interessierte - und ich glaube, das entspricht
auch besser meinen Fähigkeiten -, das war der Versuch, einem
Publikum den Menschen Sade in seiner ganzen Komplexität
dadurch näher zu bringen, daß man ein sehr konzentriertes
Porträt von ihm an einem bestimmten Punkt seines Lebens
gestaltete. Hierfür war es am besten, sowohl den Schauplatz
der Erzählung wie auch die Zeitspanne, in der sie sich abspielt,
eng zu begrenzen.
Das Drehbuch ist so konstruiert, daß zwei parallel verlaufende
Ereignisse miteinander kontrastiert werden: Die Geschichte der
Verlegung Sades in die Heilanstalt Picpus wird mit dem Fortgang
der französischen Revolution in Verbindung gesetzt.
Die Episode, die hier behandelt wird, stellt den einzigen Abschnitt
in Sades Leben dar, der bis heute ein wahres Geheimnis bleibt.
Dank Gilbert Lely und Jean-Jacques Pauvert sind wir fast umfassend
über Sades Werdegang, sein maßloses Wesen und seine
Exzesse informiert. Allein jener Abschnitt seines Lebens, der
mit dem Ende der als "La Terreur" bezeichneten Revolutionsphase
zusammenfällt, bietet immer noch Anlaß zu großem
Rätselraten.
Dieser heute am wenigsten beleuchtete Abschnitt in Sades Biographie
bot sich in besonderem Maße für das Spiel der Phantasie
und für die Konstruktion einer Fiktion an. Und das Erstaunliche
ist, dass genau zu der Zeit, da Sade am verwundbarsten ist, da
er nichts mehr hat und das Schlimmste befürchten muß,
der Lauf der Geschichte zu jener Orgie der Gewalt ausartet, die
- freilich nach dem heutigen Wortsinn - das Etikett "sadistisch"
durchaus rechtfertigt.
In gewisser Weise wird also die Geschichte selbst "sadistisch".
Dieses merkwürdige Wechselspiel zwischen dem Sadismus in
der Geschichte und dem leibhaftigen Sade bot einen interessanten
Stoff für die Konstruktion des Drehbuchs.
Zu Beginn des Films wird Sade aus dem Gefängnis
entlassen und nach Picpus verlegt. Wofür steht Picpus in
diesem historischen Kontext?
Picpus war in der schlimmsten Phase des Terrors so etwas wie
ein Zufluchtsort für vermögende Aristokraten. Picpus
bot ihnen die Möglichkeit, sich gegen Bezahlung enormer
Geldsummen in Sicherheit bringen, um dann in halber Gefangenschaft
ganz nach alter Gewohnheit weiter ihr Leben zu fristen.
Auch Sade war Aristokrat: Er entstammte einem der ältesten
Adelsgeschlechter Frankreichs, wenn er auch freilich keinerlei
Vermögen mehr besaß. Man weiß immer noch nicht
genau, wie es ihm gelungen ist, in Picpus Aufnahme zu finden
und aus dem Gefängnis entlassen zu werden, von wo aus er
zweifellos einige Wochen später zum Schafott geführt
worden wäre.
Im Film erfreut sich Sade der Protektion seiner Verehrerin
Constance, die von Marianne Denicourt gespielt wird.
Sade hatte Constance Quesnet zwei oder drei Jahre vor der Zeit,
in welcher der Film spielt, kennengelernt. Fortan sollte sie
auf Dauer seine Gefährtin bleiben, auch wenn Sade zwischendurch
mit anderen Frauen liiert war. Man weiß beispielsweise,
daß er in der Anstalt von Charenton, wo er gegen Ende seines
Lebens interniert war, eine Affäre mit einem fünfzehnjährigen
Mädchen hatte. Er selbst war damals schon über 70.
Dennoch hielt Constance ihm fast bis zum Ende die Treue. Sie
war eine ehemalige Schauspielerin, die freilich nur wenige Auftritte
bestritten hatte, und stand in Verbindung mit einigen Leuten
im Konvent. Man kann sich also leicht vorstellen, daß sie
auf die eine oder andere Weise ihren Einfluß geltend machen
konnte, um Sade das Leben zu retten.
Wie sind Sie das Problem angegangen, Sade zum Sprechen
zu bringen? Haben Sie ihr dafür Sades Texte durchforstet?
Eine erste wichtige Voraussetzung war die, daß wir beide,
Fieschi und ich, eine besondere Liebe für seine altertümliche
Sprache hegten. Nachdem ich ja bereits mehrmals Dramen von Marivaux
inszeniert hatte, war mir diese Sprache, die ich immer wieder
sehr ergreifend finde, schon etwas vertraut.
Paradoxerweise ist dies eine sehr lebendig wirkende Sprache,
obwohl sie uns mittlerweile fremd geworden ist und überhaupt
nicht mehr unserer heutigen Ausdrucksweise entspricht: In gewissem
Sinne ist es also "eine andere Sprache in der selben Sprache".
Während der Dreharbeiten haben Auteuil und ich praktisch
Tag für Tag und Szene für Szene die Dialoge neu überarbeitet.
Es ging darum, einen goldenen Mittelweg zu finden: Die Ausdrucksweise
sollte einerseits für die behandelte Epoche als plausibel
gelten können, andererseits aber dahingehend angepaßt
werden, daß sich auch ein heutiges Publikum durch jede
einzelne Szene direkt ansprechen ließ.
Wenn man Ihnen die Frage stellt: "Wer ist Sade
für Sie?", lautet die Antwort dann: "Ein freier
Mann"?
Ja. Die einzige Frage, die ich mir stelle, lautet: Wie gelangt
man dazu, sich wirklich frei nennen zu können? Es ist die
Kernfrage aller Dinge: Wie wird man frei, sowohl geistig wie
auch körperlich?
In einem historischen Kontext, da sich alles zuzuspitzen scheint
- das betrifft etwa die Philosophie, die Politik, ja sogar die
Sexualität -, da führt uns der Film einen wirklich
freien Menschen vor Augen, mag er auch eingesperrt sein.
Die Frage lautet: Wie macht man von seiner Freiheit Gebrauch?
Das hat überhaupt nichts mit Selbstverwirklichung zu tun
und kann sogar darauf hinauslaufen, daß man in die Rolle
eines anderen schlüpft, um weiterhin von seiner Freiheit
Gebrauch machen zu können, die, wie mir scheint, von essentieller
Bedeutung für eine Definition des Menschen ist.
Ist dies der Grund für Sades militanten Atheismus,
für seine Respektlosigkeit als Lebenshaltung, für seine
Lust an der Verführung?
Es geht hier um einen ewigen Widerspruch, um das Verhältnis
zwischen vergänglichen Erlebnissen und bleibenden Wahrheiten,
die in ständiger Wechselbeziehung zueinander stehen - letztlich
also um den Vorrang des Lebens vor der Existenz, um die fast
reflexartig vollzogene Abgrenzung zwischen praktischer Lebensgestaltung
und der nackten Existenz.
Man weiß, daß man zu seiner Existenz verdammt ist,
daß man aber nur frei wird, indem man die Dinge des Lebens
über die bloße Existenz stellt. Das ist ein Blickwinkel,
besser gesagt ein Grundsatz, von dem aus man zu allen anderen
Fragen gelangt. Der Name Sade hatte für mich immer etwas
Symbolisches: Er stand für das Überschreiten von Grenzen.
Ging es Ihnen auch darum, dass Freiheit auch hinter
Mauern existieren kann?
Wir entschieden uns dafür, daß die Filmfigur, der
die Gestalt des Marquis de Sade zu Grunde lag, dazu genötigt
sein sollte, in einer eng begrenzten Welt von ihrer Freiheit
Gebrauch zu machen.
Um nun innerhalb einer so einengenden Umgebung tatsächlich
eine gewisse Freiheit ausüben zu können, bleibt kein
anderer Ausweg, als selbst zum Regisseur zu werden. Solch ein
Gebrauch der Freiheit, die nur durch das Inszenieren verwirklicht
werden kann, ist möglicherweise auch dazu angetan, den anderen
Beteiligten, die gleichsam wie Marionetten gehorchen, eine gewisse
Freiheit zu vermitteln. So betrachtet, erweist sich der Film
mit einem Mal als eine Allegorie über das Wesen der Inszenierung.
Ihre Herangehensweise erinnert stark an diejenige Jean
Renoirs. Man fühlt sich etwa an "La Marseillaise"
oder an "Die goldene Karosse" erinnert.
Ich denke nicht gerne an andere Regisseure, wenn ich mit einem
eigenen Film beschäftigt bin. Es ist aber richtig, daß
ich in diesem Fall tatsächlich sehr oft an Renoir denken
mußte, für den das Inszenieren zugleich eine Lebenseinstellung
war. Es ging ihm darum, Dinge heraufzubeschwören, um so
dem Leben als solchem auf den Grund zu gehen. Das Mittel der
Inszenierung ist die einzige Methode, um das Lebendige an unserer
unentrinnbaren Existenz aufzuspüren.
Die historischen Szenen, so etwa die Verhaftung und dann die
Hinrichtung Robespierres wollte ich so filmen, daß sie
den Bildern einer heutigen Nachrichtensendung glichen: sehr kurze
Einstellungen also, Kameraschwenks über der Schulter und
rasche Bildwechsel - ganz so, als handle es sich um mühselig
erhaschte Aufnahmen, die den Eindruck von Gewalt noch zu verstärken
imstande waren.
Es gibt in Ihrem Film Szenen, in denen die Folgen des
Terrors sichtbar werden: so etwa die Bilder von Leichenbergen,
die an den Holocaust erinnern, oder aber jene Szenen, in denen
willkürlich Angehörige des Adels zur Guillotine geführt
werden. Kann man vielleicht sagen, daß die modernen Formen
der Machtausübung in dieser Phase der Geschichte "erfunden"
wurden?
Es ist bekannt, daß der moderne Staat, sei es in seiner
freundlichsten oder in seiner grausamsten Erscheinungsform, eine
Erfindung genau dieser Epoche ist. Die Idee der republikanischen
Freiheit wurde just zu diesem Zeitpunkt ins Leben gerufen, und
zwar von sehr jungen Leuten, die ich so darzustellen versuchte,
als handle es sich um die alten Anhänger der Linken, wie
sie uns noch wohl vertraut sind.
Sie wirken absolut authentisch, doch gerade aufgrund dieser
Authentizität kann man sich leicht vorstellen, daß
sie sich in einer besonders heißen Phase der Geschichte
zum Schlimmsten bereit finden werden. Dies verleiht dem Film
vielleicht eine gewisse Aktualität, zumindest in Frankreich,
wo sich Republikaner und Liberale gerade heute wieder ideologische
Auseinandersetzungen liefern.
Die Figur der Emilie, des jungen Mädchens aus adligem
Geschlecht, spielt in dem Film eine zentrale Rolle.
Sie ist eine erfundene Gestalt. Sie ist sehr jung, hat das Leben
noch vor sich und befindet sich just in dem Moment an der Schwelle
zum Erwachsensein, da die Köpfe rollen und das Ende der
aristokratischen Herrschaft eingeläutet ist. Es scheint
so, als würden vor ihr nacheinander alle Türen zugeschlagen
werden, und daher beschleicht sie die Ahnung, daß ihre
Lebenszeit recht knapp bemessen sein könnte. Die Zeit selbst
wirkt so, als sei sie mit einem Mal komprimiert worden. Wenn
Émilie demnach ein wenig leben möchte, so muß
sie sich sputen.
Sade, dem großen Regisseur hinter den Kulissen, als den
wir ihn hier porträtieren, bleibt dies nicht unbemerkt:
Er hat seine Beobachtungen gemacht und zieht seinen Nutzen daraus.
Es geht ihm dabei aber weniger um sein eigenes Wohl als vielmehr
um das ihre, und das beglückt ihn. Sein Handeln ist somit
in erster Linie Ausdruck seiner Verliebtheit. Sade dirigiert
Émilie in der gleichen Weise, in der auch ich versuche,
meine Darsteller und Darstellerinnen zu dirigieren.
Ihr gegenüber steht Constance, seine langjährige
Geliebte, die real existierte...
Wir entschieden uns für zwei Hauptstränge: Zum einen
war da die Geschichte des blutjungen Mädchens, das in der
geschlossenen Welt von Picpus Sades Aufmerksamkeit erregt und
zur wichtigsten Figur in seinem raffinierten Spiel wird, zum
anderen die der Beziehung zwischen Sade und seiner Lebensgefährtin
Constance, die aus der Ferne, dort nämlich, wo die Geschichte
gemacht wurde, für sein Wohlergehen sorgt.
Bemerkenswert ist, daß Eifersucht keine Rolle
zu spielen scheint: Die Figuren wirken befreit, und das gilt
im Besonderen auch für die Frauen.
Ja - und vor allem für die Frauen! Die Art, in der Sade
von seiner Freiheit Gebrauch macht - so wie ich das vorher ausgeführt
habe - setzt auf der Gegenseite die Freiheit der Frauen voraus.
Die Freiheit der anderen, das ist für Sade nämlich
in besonderem Maße die Freiheit der Frauen, mit denen er
zu tun hat. Allein die Vorstellung einer geknechteten Frau würde
seiner eigenen Freiheit zuwiderlaufen.
Die Art und Weise, wie Sade das junge Mädchen behandelt,
dem er als eine Art Lehrmeister dient, hat schon etwas Hypnotisches:
Er bringt Émilie soweit unter seinen Einfluß, daß
es für ihn ein Leichtes wäre, sie sich gefügig
zu machen. Er zieht es jedoch vor, sie ihrem eigenen Willen zu
überlassen: Er will sie nicht besitzen, sondern sie zum
Leben führen und ihr das Tor zur Welt öffnen.
Einmal mehr zeigt sich hier der Gegensatz zwischen Leben und
bloßer Existenz: Sade sieht, daß Émilie gefangen
ist von Maximen, die auf eine bloße Existenz hinauslaufen,
und daß sie nicht in der Lage ist, diese abzuschütteln.
Wenn er sie nun zum Leben zurückführt, so ist dies
eine wahrhaft philosophische Geste, die zudem von seiner Liebe
zeugt.
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