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Eine Hand voll Gras

Interviews

Interview mit Uwe Timm

* Wie ist die Idee für das Drehbuch zu Eine Hand voll Gras entstanden?

Ich las einen Zeitungsartikel über den Tod eines minderjährigen kurdischen Jungen aus dem Drogenmilieu, der offensichtlich einer Art Fememord zum Opfer gefallen war. Kurze Zeit später erschien eine große Reportage von Ariane Barth im Spiegel (Ausgabe 49/1995), in dem auch von diesem Fall die Rede war.

Szene Der Beitrag machte deutlich, dass es sich bei dem Phänomen der "minderjährigen Flüchtlinge", die in Deutschland als Strafunmündige harte Drogen verkaufen, auch um ein wohlorganisiertes System des Menschenhandels dreht. Danach habe ich selbst weiter recherchiert, habe Kinder und Jugendliche verschiedener Nationalitäten getroffen, die teilweise illegal hier lebten, auch Leute aus der Szene sowie Sozialarbeiter und Beamte aus dem Polizei- oder Justizapparat.

Sehr schnell war mir aber klar, dass das nicht in eine dokumentarische Aufarbeitung münden würde. Vielmehr kristallisierte sich aus den Begegnungen mit den realen Akteuren bald eine Story heraus, die zwar um ein Einzelschicksal kreist, aber letztlich davon handelt, wie aus armen Gegenden dieser Welt Kinder von Eltern los geschickt werden, um in einem reichen Land Geld zu verdienen. Sei es, weil sie die Kinder aus der akuten Not bringen wollten, und ein Esser weniger allen nutzt, sei es, weil sie vage Vorstellungen von einer glänzenden Zukunft im Westen hegten.

Szene In der gegebenen Situation liegt es dann aber geradezu auf der Hand, dass Schlepper aus dieser Not- und Ausnahmesituation der Familien Kapital schlagen, indem sie die Kinder fürs Drogenmilieu, für den Straßenraub oder für den Bereich der erotischen Dienstleistungen abrichten.

* Ist es wirklich so, dass die Familien dieser Kinder in den Heimatländern meist intakt sind und dass sie von raffinierten Vertrauenspersonen mit der Aussicht einer ordentlichen Arbeit in Deutschland getäuscht werden? Oder ist das nur eine Fassade, und jeder weiß, dass solche Reisen riskant sind und schlimm enden können?

Den Normalfall gibt es nicht. Ich habe Kinder getroffen, die heilfroh waren, dass sie von zu Hause weg gekommen sind. Sie stammen ja zum großen Teil aus bäuerlichen Verhältnissen, in denen eine unglaubliche Härte herrscht.

Weder der Onkel, der ja noch nicht einmal ein realer Verwandter sein muss, noch die Eltern sind prinzipiell gut oder böse. Weder kann man in ihnen makellose Heilige noch erklärte Schinder sehen. Es sind ja eher bestimmte Grundverhältnisse, die die Leute so machen wie sie sind.

Es geht nicht um kriminelle Neigungen, sondern darum, dass in der Gesellschaft selbst die Vorbedingungen dazu da sind, dass Leute kriminalisiert werden können. Bei der Überlegung, warum so viele Eltern ihre Kinder her geben, muss man auch mit bedenken, dass die Kinder in den Herkunftsländern sowieso von früh an mit arbeiten, und warum, so die prinzipiell gar nicht verwerfliche Überlegung vieler Eltern, sollen sie das dann nicht einfach unter besseren und lukrativen Bedingungen tun.

Szene * Hat sich die Story linear entwickelt, oder gab es eine Art Epizentrum?

Das beherrschende Bild ist eigentlich immer jenes gewesen, das einen Jungen zeigt, der mit mehreren Stichen in den Unterleib schwer verletzt und in einen Kanal gestoßen wurde. Im Todeskampf muss er verzweifelt versucht haben, sich herauszuziehen. Als seine Leiche schließlich geborgen wurde, umklammerte eine starre Hand noch die Grasbüschel an der Böschung. In dieser Hand voll Gras drückte sich hoch verdichtet und komplex eine weit verzweigte Geschichte aus.

* Die Freundschaft zwischen dem Taxifahrer Hellkamp und dem Jungen Kendal entwickelt sich ja gegen die ausdrücklichen Intentionen des ersteren, bis er merkt, dass er eigentlich seit langem, aber ohne es zu wissen, nach so einer Freundschaft gesucht hat.

Es ist ein, sagen wir, Spiel mit den Befindlichkeiten vieler Zuschauer. Ich vermute, dass die meisten von uns - und zwar unabhängig von politischen Grundüberzeugungen - ratlos wären, wenn sie so wie Hellkamp mit Kendal konfrontiert würden.

Wie verhält man sich, wenn plötzlich so eine freundliche Roma Familie vor der Tür steht. Wie geht man damit um? Diese Gesellschaft pocht ja immer darauf, sozial zu sein. Ich behaupte aber, die ist in der Mikrostruktur höchst asozial.

Gegenseitige Hilfe, ein Begriff den Kropotkin geprägt hat, das ist extrem unterentwickelt. Oder auch Nachbarschaftlichkeit. In dieser gnadenlosen Konkurrenz- und Erfolgsgesellschaft, da ist doch alles, wofür man Zeit und Mühe für Hilfe einsetzen müsste, die absolute Ausnahme.

Wahrscheinlich sind heute die, die noch am direktesten und instinktsichersten reagieren, diejenigen, die oft als Kleinbürger beschimpft oder verspottet werden. Diese chaotische Familie im Film, Hellkamps Nachbarn, nehmen ja Kendal mit größter Selbstverständlichkeit auf. Denn da sind so viele Kinder, auf eins mehr oder weniger kommt es da nicht an.

* Welche Grundstimmung hatten Sie im Sinn? Es ist ja eine traurige Geschichte, die aber Gott sei dank gar nicht betrübt daher kommt.

Es ist natürlich eine traurige Geschichte, aber man kann traurige Geschichten auch mit einem Funken Hoffnung erzählen. Es gibt ja trotz dem, was ich gerade gesagt habe, viele Leute von unterschiedlichster Nationalität, die ganz selbstverständlich und unspektakulär, selbst in solchen Fällen, helfen:

Menschen, die Illegale beherbergen oder Ärzte, die sie kostenlos behandeln. Oder auch Lehrer, die Schüler in ihrer Klasse sitzen haben, von denen sie wissen, dass die eigentlich gar nicht da sind. Das sind 'Schattenmenschen', wie der von Michael Gwisdek gespielte Bootsbauer in unserem Film sagt, von denen keiner 'etwas weiß', die aber existieren.


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* Was hat Sie an Kendals Geschichte interessiert?

Die Geschichte des kleinen Kendal ist sehr dramatisch, aber zugleich auch sehr anrührend. Es ist wichtig, dass man einerseits den Tatsachen, auf denen der Film beruht, Rechnung trägt, andererseits aber nicht die innere Entwicklung des Jungen aus den Augen verliert.

Ich möchte die Zuschauer gemeinsam mit Kendal in einen Abgrund blicken lassen und sie über diesen Weg zu Mitfühlenden und Sympathisanten seines Schicksals machen. Idealerweise stellt sich beim Zuschauer dann etwas ähnliches ein wie bei Hellkamp, dem von Oliver Korittke gespielten Taxifahrer, mit dem er Freundschaft schließt.

Szene * Die Stimmung des Films ist eher von einer melancholischen Freundlichkeit.

Wir wollten den Zuschauern nicht permanent die brutale Gemeinheit des Milieus vor Augen halten und haben uns deshalb mehr auf die Zeichnung der Charaktere konzentriert.

Es ist interessant zu zeigen, was die Kulturschocks, die Arman nach seiner Ankunft in Hamburg durchlebt, mit ihm machen. Er erlebt aber auch viel Schönes. Für den Jungen ist es ein fortwährendes Wechselbad aus Erwartung, Neugierde, Lerneifer und Stolz einerseits und Einsamkeit, Heimweh, Angst und Demütigung andererseits. Das macht die besondere Verfassung unseres Helden und somit auch die Stimmung des Filmes aus.

* Von den äußeren Ereignissen her betrachtet, könnte Eine Hand voll Gras ja durchaus ein Krimi sein.

Sicherlich, aber das wollten wir nicht erzählen. Weder der kriminalistische Moment noch die Enthüllungsgeschichte sollte im Mittelpunkt des Filmes stehen. Die Brutalität der äußeren Ereignisse darf nicht vom inneren Kern unserer Geschichte ablenken.

* Es gibt kaum Szenen ohne den kindlichen Hauptdarsteller, d.h. Sie waren darauf angewiesen, dass er in jedem Moment sehr gut ist. Wie haben Sie mit ihm gearbeitet?

Ich habe versucht, ihm das Gefühl zu vermitteln, das ganze sei ein großes Spiel. Als solches hat er es dann auch gesehen. Wir gaben ihm klare Anweisungen für den nächsten 'Spielzug'.

Ich glaube, dass er die Härte des Filmes erst richtig begriff, nachdem er den fertigen Film angeschaut hatte. Die Gewalt und die Dramatik, damit meine ich auch den ganzen Bogen der Geschichte, bekommt man beim Drehen nicht so mit.

Eine Szene, die ihm allerdings wirklich unangenehm war, war jene in der Toreinfahrt: Zwei Jungs drücken ihn an die Wand und der eine sagt: "Blas mir einen!". Er hat gar nicht verstanden, was damit gemeint war, aber er hat instinktiv gespürt, dass es sich um eine beängstigende Situation handelte.

Im Grunde war die spielerische Arbeit am Set fast identisch, mit dem, was diesen Kindern wirklich widerfährt und weshalb es so gut funktioniert. Das Geschäft, für das sie missbraucht werden, ist für sie wie ein Spiel: Da gibt dir einer ein paar Kügelchen und bringt dir bei, dass du für eines 50 Mark bekommst. Du hast ja keine Ahnung was das ist. Es ist ein Spiel und du spielst mit.

* Was hat es mit Hellkamps Faible fürs Japanische und die Welt der Samurai auf sich?

Hellkamp hat eine große Lebenskrise durchlaufen und ist dabei, seine Existenz neu zu ordnen. Dabei versucht er auch, bei sich zu Hause eine bestimmte Klarheit zu schaffen. Er ist ein Mensch, der auf der Suche nach einem Sinn ist, und das schlägt sich auch in seiner unmittelbaren Umgebung nieder. Aber nicht überall, nicht in allen Äußerlichkeiten, denn Hellkamp ist kein konsequenter Typ.

* Kendal ist ohne wirklichen Familienzusammenhalt in der Fremde und sucht sich einen großen Ersatzbruder, den er in dem Taxifahrer Hellkamp auch findet. Schließlich ist es aber nicht nur Kendal, der Hellkamp braucht, sondern es beruht auf Gegenseitigkeit.

Das zentrale Thema in Eine Hand voll Gras ist Freundschaft. Jeder Mensch hat die Sehnsucht nach Geborgenheit, Freundschaft und nach einer Familie, wenn es auch nicht die traditionelle Familie sein muss.

Umgekehrt weckt ein Lebenspartner oder ein Kind auch das Bedürfnis, für andere Verantwortung zu übernehmen. Dieses Gefühl weckt Kendal in Hellkamp. Aber nicht nur Hellkamp ist sein Vertrauter, auch in Franziska, dem Nachbarmädchen, findet Kendal eine enge Freundin, auf die er sich verlassen kann.




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